Ganz passend zu unserem Projekt schrieb die „Thüringer Allgemeine“ am 24.06. unter dem Titel „In der Grauzone“:
Gewalt in der Schule – ein Dauerthema. Damit sei es gar nicht mehr so schlimm, sie gehe zurück, sagen manche. Es gibt dafür Statistiken. Es wird immer schlimmer, brutaler, sagen andere. Auch ihnen scheinen Zahlen Recht zu geben. Was aber ist wirklich los?
THÜRINGEN. Der dreizehnjährige Mitschüler nimmt, provozierend grinsend, Annas Tintenkiller aus der Federtasche und zerbricht ihn genüsslich. Dann kickt er die Reste zu seinem Kumpel durch den Klassenraum. Er wartet nur darauf, dass das Mädchen weint.
Die Musiklehrerin eines Gymnasiums im Kreis Sömmerda wird dieser Tage in der Pause auf dem Gang von einem Zwölft- klässler angehalten: „Überleg dir das mit meiner Sechs. Sonst bist du bald tot“.
Schüler eines Erfurter Gymnasiums filmten per Videokamera eine Lehrerin mit ihrem Kollegen, die miteinander ein Liebesverhältnis hatten. Dann stellten sie den Streifen ins Internet. Eine Riesengaudi?
Gewalt an Thüringer Schulen hat viele Gesichter. Laut Kultusministerium stieg die Zahl der Gewalttaten an staatlichen Schulen im vorigen Jahr erneut. 236 „besondere Vorkommnisse“ waren von den Schulen gemeldet worden, darunter aber nur 38 Fälle von Gewalt von Schülern untereinander.
2005 gab es 150 Meldungen, dazu zählen aber auch Unfälle, Brand, Hochwasser oder wenn ein Schüler plötzlich schwer krank wird. Allerdings: Es wurden im vorigen Jahr auch zwei Körperverletzungen bekannt, die Schüler Lehrern beibrachten, sowie eine Morddrohung gegen einen Lehrer und eine gegen einen Schüler.
Selbst Experten sagen, dass auf diese Zahlen nicht viel zu geben ist. Denn gemeldet werden müssen nur Fälle, die die Unfallkasse betreffen, in der alle Schüler und Lehrer versichert sind. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die häufigste Form von Gewalt an Schulen keineswegs das Prügeln und Raufen ist, sondern gegenseitiges Beschimpfen, Beleidigen und Herabsetzen; von Jungen wie Mädchen gleichermaßen ausgeübt, aber von niemandem gezählt oder statistisch erfasst. Nur zwölf bis 15 Prozent der Schüler geben an, davon nicht betroffen zu sein. Mobbing und neuerdings Bullying (die Androhung körperlicher Gewalt, teils verbunden mit Erpressung) gehören ebenfalls zu einer Grauzone, über die niemand redet.
Nahezu jede Schule beteuert, man sei „eine Wohlfühlschule“. Vor allem Gymnasien meinen, mit Gewalt rein gar nichts zu tun zu haben. Dabei passieren an den Gymnasien statistisch sogar mehr Raufunfälle als an Grundschulen.
(Gemeldete) Verletzungen erleiden dabei jährlich bundesweit ein Prozent der Schüler. Dass Jungen öfter prügeln als Mädchen, dürfte kaum wundern, vor allem sind es die 13- bis 16-Jährigen, heißt es. Immer mittwochs sowie im November und Februar wird am häufigsten zugeschlagen, fast 60 Prozent der Raufereien ereignen sich in den Pausen.
Doch die Schulen fürchten um ihren guten Ruf. Sie versuchen, die Probleme möglichst intern zu klären, nur das Nötigste zu melden. Die Schulleiter bestreiten, auf Fälle an ihrer Schule angesprochen, in der Regel alles. Denn wird was bekannt, schadet es dem Ruf. Schließlich ist ein Polizeiauto mit Blaulicht auf dem Schulhof alles andere als eine Empfehlung an Eltern, ihr Kind gerade dorthin zu schicken. In Zeiten des akuten Schülermangels ist das eine Existenzfrage für viele Schulen und so auch ein Nährboden für das Vertuschen und schließlich gewähren lassen.
In einer Weimarer Schule, die auf keinen Fall genannt werden will, fanden die Lehrer vor Monaten morgens die Türen mehrerer Klassenzimmer mit Sekundenkleber und Wachs verschlossen vor. Das wiederholte sich mehrere Tage. Die Schulleitung holte schließlich die Polizei. Unter wütenden Protesten von mehreren Eltern, so berichtet ein Vater. Die Spurensicherung brachte offenbar keine brauchbaren Hinweise, ein Täter meldete sich freiwillig nie.
Dafür war der Sachschaden enorm, den die Schule letztlich selbst beglich, wie sie einräumt. Pädagogisch, sagen die Lehrer, hätten sie nichts ausrichten können. „Wie auch, ohne alle unter Generalverdacht zu stellen?“, fragen sie. So schwebt das Verfahren noch immer und wird möglicherweise irgendwann eingestellt.
Doch nicht nur mancher Lehrer schaut weg. Richter Pröpstel vom Landgericht Erfurt beklagt, viele Schüler seien nicht nur ungeübt im Bewältigen von Konflikten. Sie wüssten auch zu wenig: Sie halten für einen guten Gag, was Sachbeschädigung ist. Sie kichern über das Intim-Video, das sie über ihre Lehrer ins Internet stellten, verletzen aber Persönlichkeitsrechte. Sie wissen oft nicht, dass sie drohen, beleidigen, erpressen und dass dies Straftatbestände sind. Sie ahnten häufig nicht mal, wie ein Mensch leidet, der gemobbt wird. Über Jugendstrafrecht sei ihnen kaum etwas bekannt, lautet das Fazit.
Richter Pröpstel selbst bietet als Konsequenz daraus regelmäßig Kurse an, hauptsächlich für Lehrer über das Fortbildungsinstitut Thillm des Landes. Weil sie oft nicht wüssten, wie man mit solchen Konflikten umgeht, was Schule darf, wenn sie eingreift, wie man Gewalt ahnden soll oder wie die Justiz reagiert. Diese Kurse sind regelmäßig überfüllt. Über eigene Erfahrungen möchten die Teilnehmer indes kaum reden.
Alles nur Theorie, sagen sie.
24.06.2008 Von Angelika REISER-FISCHER